Kommentar

Wir sind nicht immun gegen gesellschaftlichen Rückschritt

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Moschee in Kairo
Moschee in Kairo

Noch Ende der 1950er Jahre war der Gedanke, Frauen unter ein Kopftuch zwingen zu wollen, so abwegig, dass er mit Gelächter quittiert wurde. 70 Jahre später ist das für Frauen in Iran und Afghanistan traurige Realität. Sebastian Schnelle weist darauf hin, dass gesellschaftlicher Fortschritt sich nicht immer nur in eine – gewünschte – Richtung entwickelt.

Bei der Recherche zu einem Buchprojekt erinnerte ich mich vage an eine Anekdote, die ich über Gamal Abdel Nasser, den ehemaligen ägyptischen Präsidenten, sein Verhältnis zu den Muslimbrüdern in Ägypten und deren Disput über Frauenrechte gelesen hatte.

Dabei ging es darum, dass eine der ersten Forderungen, die Hassan al-Hudaibi, der Führer der Muslimbruderschaft in Ägypten, nach dem Putsch der sogenannten Freien Offiziere unter Führung Nassers an diesen gerichtet haben soll, die Einführung einer Kopftuchpflicht für Frauen in der Öffentlichkeit war.

Diese Forderung soll Nasser mit dem Verweis, dass, wenn al-Hudaibi seine eigene Tochter nicht zwingen könne, Kopftuch zu tragen, er, Nasser, wohl kaum zehn Millionen Ägypterinnen zwingen könne, abgeschmettert haben.

Diese Anekdote veröffentlichte ich auf X (vormals Twitter) als historische Kuriosität und widmete mich weiter meiner Recherche. Damit war das Thema für mich zunächst erledigt und ich dachte auch nicht mehr daran, bis eine Userin unter meiner Veröffentlichung ein Video hinterließ, in dem Nasser auf einer Veranstaltung, die im Video auf 1958 datiert wird, genau diese Anekdote zum Besten gibt, die sich 1953 zugetragen haben soll.

Das Video, schwarz-weiß und grobkörnig, wie für die Zeit üblich, geht über 2:12 Minuten und zeigt Nasser, wie er auf Arabisch zu einer Versammlung spricht, und ist mit englischen Untertiteln versehen. Nachdem ich bisher nur über diese Anekdote gelesen hatte, war ich erfreut zu sehen, dass es davon auch eine Tonaufnahme aus Nassers Munde gibt, was zu dieser Zeit ja nicht üblich war, da noch nicht jedermann ständig ein Smartphone mit Aufnahmefunktion mit sich führte.

Wirklich bemerkenswert aber erschien mir eine andere Tatsache, und die sollte uns nachdenklich machen.

Als Nasser berichtet, dass er sich mit der Führung der Muslimbruderschaft getroffen habe und dass eine Forderung dieser gewesen sei, dass Frauen sich in der Öffentlichkeit zu verschleiern hätten, bricht im Saal Gelächter aus und es kommt zu einem Zwischenruf, dass "er selbst" – gemeint ist wohl al-Hudaibi – doch das Kopftuch tragen solle, der ebenfalls mit Gelächter quittiert wird.

Es ist, mit dem Wissen von 2025, verstörend zu sehen, wie der Gedanke, Frauen durch die Macht des Staates unter das Kopftuch zu zwingen, Ende der 1950er Jahre so abwegig erscheint, dass er mit Gelächter quittiert wird. Ein Zustand, der 70 Jahre später für Frauen in Iran und Afghanistan eine traurige Realität darstellt. Auch wenn es in Ägypten aktuell keinen rechtlichen Zwang zum Kopftuch gibt, ist es schwer vorzustellen, dass ein Publikum auf eine derartige Forderung heute mit Amüsement reagieren würde.

Und nicht nur der Zwang der Staatsmacht, auch der Druck von unten hat beständig zugenommen. Heute tragen in den arabischen Staaten mehr Frauen Kopftuch als in den 1950er und 1960er Jahren und es hat eine deutliche Retraditionalisierung stattgefunden. Diese muss gar nicht notwendig von Religionswächtern oder ähnlichen Organisationen kontrolliert werden, sondern hat sich organisch in der Gesellschaft breit gemacht.

Viele durchschnittliche Männer und Frauen in der arabischen Welt haben akzeptiert, dass es unterschiedliche Geschlechterrollen in Bezug auf die Bedeckung von Haupthaar gibt und auch in rechten Milieus im sogenannten Westen gibt es Bestrebungen nach einer Retraditionalisierung von Geschlechterrollen. Maximilian Krah, Spitzenkandidat der AfD für die vergangene Europawahl, hat in seinem Buch "Politik von rechts" diesem Thema ein ganzes Kapitel ("Identität als Mann und Frau") gewidmet.

Hüten wir uns also davor, zu glauben, dass gesellschaftlicher Fortschritt, Teilhabe und Gleichberechtigung sich immer nur in eine Richtung entwickeln. Denken wir stattdessen daran: Auch wir sind nicht immun.

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